Im Schatten der Coronoia plant die WHO, einen neuartigen Polio-Impfstoff fastest-track zuzulassen, um die Auswirkungen der bisherigen Impfstrategie in den Griff zu bekommen - auch als Blaupause für die Zulassung von COVID-19-Impfstoffen.
Seit mehr als 30 Jahren arbeitet die WHO an der Ausrottung der Kinderlähmung und setzte und setzt dabei aus Praktikabilitätsgründen international überwiegend auf die Schluckimpfung mit abgeschwächten, aber vermehrungsfähigen Viren (OPV).
Diese vermitteln zwar in aller Regel einen hervorragenden Impfschutz, bergen aber das Risiko, dass diese Impfviren ihre Abschwächung rückgängig machen und zu "vollwertigen" Polioviren zurückmutieren, die dann auch wieder das volle Potential haben, die Erkrankung auszulösen und sich in betroffenen Ländern wieder zu verbreiten ("circulating vaccine-derived polio-viruses" CVDPV).
Parallel zur annähernden Ausrottung der Poliofälle, die durch die ursprünglichen Erreger, so genannte Wildviren, ausgelöst wurden, breiten sich Fälle durch CVDPV international immer stärker aus und betreffen mittlerweile mehr als 20 Staaten, Tendenz deutlich steigend, sowohl was die Zahl der Länder als auch der Fälle angeht: so wurden 2020 bisher mit 460 CVDPV-Fällen viermal so viele Poliokranke erfasst, als im Vergleichszeitraum 2019.
Es handelt sich dabei ganz überwiegend über CVDPV-Fälle des Poliovirus Typ 2, der 2015 offiziell international als ausgerottet erklärt und im Anschluss weltweit aus den Lebendimpfstoffen gegen Kinderlähmung entfernt wurde - mit der Folge einer nachlassenden Immunität gegen diesen Typ des Poliovirus, denn der in vielen Ländern verwendete gespritzte Polio-Impfstoff mit abgetöteten Viren (in dem Typ 2 weiterhin enthalten ist), vermittelt anders als die Schluckimpfung keine relevante Herdenimmunität (s. hier).
Seit über 10 Jahren wird jetzt an neuen Polioimpfstoffen geforscht, die - ebenfalls Lebendimpfstoffe und ebenfalls im Labor abgeschwächt ("attenuiert") - das Problem jetzt lösen sollen, obwohl die Zulassungsstudien für dies Impfstoffe weit davon entfernt sind, abgeschlossen zu sein.
Grundsätzlich - das geben die beteiligten Forscher zu - bergen aber auch diese Impfstoffe das Risiko der Rückmutation und damit verbunden dem Verlust der Attenuierung; man habe lediglich mehr Sicherheitsmechanismen eingebaut, als bei den ursprünglichen Impfstoffen.
Es ist wohl auch diese Unsicherheit, die afrikanische Gesundheitsexperten wie Abdhalah Ziraba vom African Population and Health Research Center in Nairobi zurückhaltend sein lässt bei dem "emergency roll-out" des Impfstoffs, dieser sei bei einer Erkrankung, die seit Jahrzehnten bekämpft wird wenig Sinn: ein solcher emergency roll-out "makes sense where you don’t have any tool in the arsenal — such as with Ebola or with COVID. But polio and COVID are light years apart in terms of what constitutes an emergency."
Das Gegenargument, mit dem Simona Zipursky, von der Global Polio Eradication Initiative in Genf eine Notfall-Zulassung fordert, ist entlarvend: "we are not undermining not just the polio programme, but immunization in general". Es geht also darum, den durch eines der größten Impfprojekte der Menschheitsgeschichte - den Versuch, die Kinderlähmung auszurotten - unmittelbar entstandenen Schaden möglichst schnell zu begrenzen, um das Vertrauen in Impfungen insgesamt nicht zu gefährden.
Natürlich ist es sinnvoll, hier einen Impfstoff größtmöglicher Stabilität zu entwickeln, der das hausgemachte Problem in den Griff bekommt und damit verhindert, dass noch mehr Kinder weltweit durch Impfviren schwerst erkranken und oft gravierende Beeinträchtigungen zurückbehalten!
Aber gerade die entstandene Situation zeigt einmal mehr, wie unvorhersehbar die Auswirkungen von Impfungen und Impfprogrammen nicht selten sind - bei einem initial regulär zugelassenen Impfstoff wie dem OPV zeigten sich diese Probleme erst nach milliardenfacher und jahrzehntelanger Anwendung; nicht einmal diese schützt also zuverlässig vor bösen Überraschungen.
Wer hier jetzt mit einem Impfstoff eingreifen will, der nicht einmal das reguläre Zulassungsprogramm absolviert hat, muss sich ernste Fragen über die persönliche Lernfähigkeit gefallen lassen...
Und: dies Vorgehen der übereilten Zulassung wird, wenn es nach der Expertengruppe der WHO für Impfungen geht - allen politischen Mantras von "Sicherheit und Wirksamkeit" zum Trotz -, auf die COVID-19-Impfstoffe übertragen werden: “It’s going to be a very good exercise for us to look [at] how this works, because probably some of the COVID-19 vaccines will have to be authorized for use in the same way,” so Alejandro Cravioto, der Vorsitzende der SAGE, der Strategic Advisory Group of Experts on Immunization der WHO.
Irwin A. 2020. New polio vaccine poised to get emergency WHO approval. https://doi.org/10.1038/d41586-020-03045-2