Im Oktober 2020 erschien eine weitere Studie, die den Versuch unternahm, den Gesundheitszustand geimpfter und ungeimpfter Kinder zu vergleichen (Lyons-Weiler 2020) - leider wieder mit entscheidenden methodischen Einschränkungen...
In diesem Fall wurden - anders als bei Hooker - sogar nur die Patientendaten (Patientenakten und Abrechnungsdaten) einer einzigen Kinderarztpraxis verwendet, um hochkomplexe statistische Analysen zu Diagnosehäufigkeiten bei Geimpften und Ungeimpften anzustellen. Das Ergebnis - wenig verwunderlich angesichts der Assoziation eines der Autoren an das IPAK (Institute for Pure and Applied Knowledge, ein nicht unumstrittenes privates Institut in den USA) - zeigt nach Ansicht der Verfasser - ein deutlich häufigeres Auftreten der untersuchten Erkrankungen bei Geimpften.
Die in meinen Augen wesentlichen Kritikpunkte an dieser Studie in Kürze:
Untersucht wurde die Häufigkeit von mehr als 20 Diagnosen, darunter einfache wie "Mittelohrentzündung" und hochkomplexe wie "Verhaltensstörungen", "ADHS" oder "Asthma bronchiale" - speziell zu den letztgenannten fehlt in der Studie jeder Hinweis auf diagnostische Kriterien, also Angaben zu der Frage: welche Beschwerden genau lagen in welchem Schweregrad dieser Diagnose zu Grunde.
Nun mag man einwenden, dass dies hier nicht relevant sei, weil es sich ja um nur eine Praxis handele, die jeweils nach den gleichen Kriterien diagnostiziere. Das Fehlen dokumentierter Diagnosekritierien öffnet hier aber einem systematischen Fehler die Tür, wie im nächsten Absatz zu zeigen sein wird.
Abhilfe schaffte hier nur das Verwenden klarer diagnostischer Kriterien, die im Vorfeld definiert wurden und deren Erfüllung oder Nicht-Erfüllung nachvollziehbar ist.
Mit großem Aufwand wurden die Patientendaten der Praxis vor der Analyse anonymisiert (wenn auch von Mitarbeitern eines umstrittenen privaten Instituts) - der entscheidende Schritt aber: welches Kind erhält wann welche Diagnose wurde unverblindet vollzogen. Die Ärztin/der Arzt dieser Praxis wusste natürlich, ob sie/er die Diagnose bei einem geimpften oder einem ungeimpften Kind stellt.
Dies könnte - gerade auch, wenn vielleicht eine spätere wissenschaftliche Ausarbeitung der Daten geplant war, zu einem bias, einem systematischen Fehler im Sinne der Erwartenshaltung der jeweiligen Ärztin/des jeweiligen Arztes führen. Sollte die Kollegin/der Kollege z.B. fest davon überzeugt sein, geimpfte Kinder seien ohnehin immer die gesünderen, könnte dies die Diagnosestellung systematisch verfälscht haben und dieser bias wäre auch durch die anonyme und verblindete Analyse nicht mehr zu korrigieren.
Abhilfe schaffte hier, wenn gerade bei komplexen Erkankungen wie z.B. Entwicklungsverzögerungen oder Asthma bronchiale entweder die Diagnosestellung im Sinne der Studie nicht primär von den behandelnden Ärzten selber, sondern von unabhängigen Instanzen aufgrund klarer, vordefinierter Kriterien erfolgt oder alternativ zumindest die Überprüfung der gestellten Diagnosen aufgrund dieser Kriterien unabhängig vorgenommen wird.
Der inhaltlich gleichgerichteten Studie von Mawson wurde zu Recht vorgeworfen, dass sich die dort verglichenen Gruppen Geimpfter und Ungeimpfter auch im Wahrnehmen von z.B. Vorsorgeuntersuchungen unterschieden, sich damit die Häufigkeit, mit der Eltern überhaupt ärztlichen Rat aufsuchen ( so genanntes healthcare seeking behaviour) systematisch unterschied und nicht als Kriterium von Gesundheit oder Krankheit der Kinder herangezogen werden kann (wie es die Studie leider tut).
Diesem Dilemma versuchen die Autoren der aktuellen Untersuchung zu entkommen, indem sie mehrere neue Messgrößen definieren: die "Days of Care/DOC" und "Relative Incidence of Office Visits/RIOV"
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die DOC erfasst die "the number of days between the last and first office visits" - also den Gesamtzeitraum der Betreuung des Kindes in der Praxis
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die RIOV wird verstanden als "average total incidence of billed office visits per outcome related to the outcomes" - also die durchschnittliche Häufigkeit, mit der wegen einer Diagnose die Praxis aufgesucht wurde
Die Sinnhaftigkeit beider Parameter - aus denen in den aufwändigen Statistiken weitestreichende Schlussfolgerungen gezogen werden, erschließt sich nicht, weil sie ja nicht patientenbezogen abgefragt wurden ("wie oft/wie lange war das Kind wegen einer bestimmten Diagnose in ärztlicher Betreuung?") sonder praxisbezogen ("wie oft/wie lange war das Kind wegen einer bestimmten Diagnose in dieser einen Praxis?"). Das kann aber kaum als Maß für die Ernsthaftigkeit oder Schwere einer Erkrankung herangezogen werden, denn es wäre ja z.B. vorstellbar, dass gerade die Kinder mit einem besonders schweren Verlauf ihres Asthma bronchiale parallel zur Betreuung in der Studienpraxis auch noch in einer Spezialambulanz vorgestellt und behandelt wurden oder ein Teil der Behandlung sogar Krankenhausaufenthalte notwendig gemacht hätte. In einem solchen Falle wären die sich dann ergebenden wenigen asthmabezogenen Termine in der Praxis überhaupt kein Anhaltspunkt für eine geringe Krankheitsschwere.
Abhilfe schaffte hier nur ein patientenzentriertes Vorgehen, d.h. dass alle medizinischen Kontakt dokumentiert werden, die ein Patient im Sinne der Studie wahrnimmt, unabhängig davon, ob sie in der Studienpraxis/dem Studienzentrum oder eben außerhalb erfolgen.
Wissenschaftliche Seriosität wird nicht durch hochaufwändige, komplexe und feindifferenzierte statistische Analysen erreicht, sondern zunächst einmal durch eine möglichst breite Datenbasis, die möglichst unanfällig für systematische Fehler ("bias") ist.
So reiht sich diese Analyse ein in die mittlerweile nicht kleine Zahl von Veröffentlichungen, die Hinweise auf die Notwendigkeit derartig seriöser Studien liefert, selber diesen Ansprüchen aber eben nicht genügt.
Die zugrundeliegende Fragestellung eines mittel- bis langfristigen Vergleichs der Gesundheit geimpfter und ungeimpfter Kinder ist - angesichts der um sich greifenden Epidemie nationaler Impfpflichten - dringlicher denn je zu klären, die hier vorgelegten Daten tragen zu dieser Klärung aber nicht wirklich bei.
Hooker BS. 2020. SAGE Open Medicine. https://doi.org/10.1177/2050312120925344. Abruf 03.07.2020
Lyons-Weiler. 2020. J. Int. J. Environ. Res. Public Health, 17(22), 8674; https://doi.org/10.3390/ijerph17228674
Mawson AR. J Transl Sci Vol 3(3):1-12. Abruf 05.05.2017