Eine der ersten konkreten Empfehlungen, die Jens Spahn in der aktuellen Corona-Pandemie aussprach (noch bevor diese Pandemie Pandemie genannt wurde) war, dass "Über-60-Jährige" sich spätestens jetzt gegen Pneumokokken impfen lassen sollten, "damit im Fall der Fälle eine zusätzliche Infektion, die die Lunge dann zusätzlich belastet vermieden werden kann." Aber: funktioniert das überhaupt? Ein Faktencheck...

Impfung der Älteren

Ob die für ältere Menschen von der STIKO empfohlene, so genannte Polysaccharid-Pneumokokkenimpfung (PPSV23) überhaupt die Häufigkeit von Lungenentzündungen vermindert, ist bis zum heutigen Tag völlig offen - zahlreiche Studien zu dieser Frage kommen zu dem meist ähnlichen Ergebnis: die Häufigkeit von Lungenentzündungen durch Pneumokokken (die nur eine mögliche Erregerfamilie für Lungenentzündungen sind) wird mehr oder weniger stark vermindert, die Häufigkeit von Lungenentzündungen in diesem Alter insgesamt jedoch nicht relevant beeinflusst, so z.B. "PPSV23 vaccination is likely effective in reducing incidence of pneumococcal CAP [eine außerhalb des Krankenhauses erworbene Pneumonie] in older individuals, although its preventive effect for all-cause CAP has not been achieved." (Suzuki 2019) "effectiveness of PPV23 against CAP was not consistent in the general population" (Tin Tin Htar 2017 - obwohl vom Impfstoffhersteller durchgeführt), oder "PPV-23 provided weak protection against all-cause pneumonia in an immunocompetent population" (Diao 2016).

Und auch eine Metaanalyse durch die damals (2013) noch nicht umstrittene Cochrane-Collaboration kommt zu dem klaren Ergebnis: "The available evidence does not demonstrate that pneumococcal polysaccharide vaccines prevent pneumonia (of all causes) or mortality in adults." (Moberley 2013).

Impfung der Enkel

Aber dann - so lautet der derzeit vielen Eltern nahe gelegte Schluss - sollte doch spätestens jetzt die bisher vielleicht vernachlässigte Pneumokokkenimpfung für das eigene Kind nachgeholt werden, um über die vermutete Herdenimmunität dann Oma und Opa zu schützen... .

Nun ist es ja nicht so, dass gute und überzeugende Gründe für eine Pneumokokkenimpfung bei Kindern (eine so genannte Konjugat-Pneumokokken-Impfung) nicht dringend gesucht würden (s. hier und hier) - aber auch hier werden die Impfeuphoriker leider nicht fündig:

der schon von dem direkten Effekt der Pneumokokkenimpfung bei Kindern sattsam bekannte replacement-Effekt (s. hier und hier) macht auch den erhofften Herden- (oder auf Leopoldinisches Neusprech: Gemeinschafts-) schutz weitestgehend zunichte:

selbst wenn man die Betrachtung der Lungenentzündungen ausschließlich auf Pneumokokken-bedingte Pneumonien beschränkt (eine letztendlich völlig unzulässige Vereinfachung, s.o.) ergibt sich in einer aktuellen Übersichtsarbeit (2018) über zehn europäische Länder ein allenfalls "bescheidener" Effekt auf so genannte IPD - "invasive pneumococcal diseases" (dazu zählen Lungenentzündung, Blutvergiftung und Hirnhautentzündung): "Overall IPD incidence [die Häufigkeit invasiver Pneumokokken-Erkrankungen] in older adults decreased moderately after five childhood PCV10/13 years in 13 european sites. Large declines in PCV10/13 serotype IPD, due to the indirect effect of childhood vaccination, were countered by increases in non-PCV13 IPD" (Hanquet 2018). Auch eine Studie, die sich auf die in Deutschland teilweise von den Herstellern von Pneumokokken-Impfstoffen finanzierte (!) Erfassung von Pneumokokkenerkrankungen bezieht, findet allenfalls einen "limited herd protection effect of the infant pneumococcal vaccination program on IPD among adults in Germany". Auch hier findet sich ein massives Verschiebephänomen weg von im Impfstoff enthaltenen hin zu nicht enthaltenen Pneumokokken-Serotypen bei einer insgesamt zu beobachtenden deutlichen Gesamtzunahme der IPD bei Älteren in Deutschland (van den Linden 2019) - trotz einer gut akzeptierten Pneumokokkenimpfung bei Kindern und einer schon lange eingeführten Pneumokokkenimpfung für Ältere.

Literatur

Diao W. 2016. Vaccine. 34(13):1496–1503

Hanquet G. 2019. Thorax. 74(5):473–82

van der Linden M. 2019. PLoS ONE. 14(8):e0220453

Moberley S. 2013. Cochrane Database of Systematic Reviews 2013, Issue 1. Art. No.: CD000422. DOI: 10.1002/14651858.CD000422.pub3.

Tin Tin Htar M. 2017. PLoS ONE. 12(5):e0177985

Suzuki K. 2019. Human Vaccines & Immunotherapeutics. 15(9):2171–77