Nachdem in den vergangenen Jahren in den einschlägigen Medien immer wieder über eine "Rückkehr der Diphtherie" nach Deutschland fabuliert wurde, sehen wir seit dem Sommer 2022 in Europa tatsächlich eine deutliche Zunahme von Diphtherie-Fällen bei Menschen mit einer Migrationsgeschichte - zum Einordnen dieses Phänomens sind wie immer Fakten unerlässlich.

  • Mehrere Corynebakterien können Diphtherie auslösen. Im klassischen Fall ist dies Corynebacterium diphtheriae, von dem noch einmal 4 Subtypen existieren. Dieses Bakterium produziert, nachdem es selbst von einem Virus infiziert wurde, ein hochgiftiges Toxin, das für die meisten Komplikationen verantwortlich ist.

  • In den letzten Jahren wird die Diphtherie in westlichen Länder zunehmend durch Corynebacterium ulcerans ausgelöst, das, wie das ebenfalls beobachtete Corynebakterium pseudotuberkulosisauch auch bei (Haus-)Tieren nachgewiesen werden kann (s. hier). Beide Corynebakterien können von Mensch zu Mensch übertragen werden und ebenfalls nach Infektion durch das entsprechende Virus ein Diphtherietoxin bilden.

  • Tröpfcheninfektion/Kontaktinfektion

  • Asymptomatische Träger sind bei Diphtherie (vor allem bei niedriger Durchimpfung) häufig (Scheifele 2009).

  • Die Diphtherie ist nicht sehr ansteckend, nur etwa 20% der Nicht-Immunen erkranken bei Kontakt (LGL 2020).

  • Bei der Haut-Diphtherie kommt es zu einer Infektion oft bei vorgeschädigter Haut.

  • Inkubationszeit 2 - 5 Tage

  •  "Most infections with C. diphtheria are asymptomatic or run a relatively mild clinical course" (WHO 2006).

  • Bei manifester Erkrankung kommt es typischerweise zum Befall des Rachen/Kehlkopfbereiches mit hohem Fieber, Mandel- und Kehlkopfentzündung (Croup) bei stark reduziertem Allgemeinzustand

  • Die Hautdiphtherie zeigt das Bild einer typischen bakteriellen Hautinfektion.

  • Ersticken durch Verlegung des Kehlkopfes
  • Schädigung des Herzmuskels durch das Toxin (tritt auf in 10 - 25% der Fälle, verantwortlich für 50 - 60% der Todesfälle)
  • Schädigung des Nervensystems mit Lähmungen auch im Bereich der Hirnnerven durch das Toxin

  • Antitoxingabe („passive Impfung“) - die Verfügbarkeit des Diphtherie-Antitoxins ist jedoch in den letzten Jahren international sehr unzuverlässig geworden (WHO 2017)
  • Antibiotika-Gabe

  • Letalität 10 - 20%, d. h. 10 - 20% der Erkrankten sterben.

  • Die Sterblichkeit ist in Ländern, in denen die Diphtherie häufiger vorkommt (z.B. in Lettland) signifikant geringer, als in diphtheriearmen Ländern - dies könnte an der schnelleren Diagnosestellung liegen, die gerade bei der Diphtherie von überragender Bedeutung für die Behandlung und damit die Prognose ist (RKI 2011).

  • Entscheidend ist das Vorhandensein von antitoxischen IgG-Antikörpern

  • Diese werden in aller Regel nach Infektionen mit toxinbildenden Diphtherie-Bakterien gebildet und schützen ab einer Konzentration von 0,1 IU/ml zuverlässig vor schwerer Erkrankung.

  • Da in selten Fällen ("occacionally") keine schützende Immunität nach der Infektion entsteht, empfiehlt die WHO eine Grundimmunisierung für alle Genesenden (WHO 2017).

  • Bei ausreichend hohen Antikörper-Titern der Schwangeren wird ein Nestschutz für das Neugeborene weitergegeben, der für die ersten Lebensmonate schützt.

  • Vor Beginn der Diphtherie-Impfkampagnen waren Neugeborene in den ersten Lebensmonaten durch mütterliche Antikörper geschützt (Nestschutz).

  • Symptomfreie Kolonisation (s. hier) und subklinische Erkrankungen waren häufig, so dass bis zum Alter von etwa 20 Jahren auch alle bis dahin nicht manifest an Diphtherie Erkrankten eine natürliche, antitoxische Immunität aufgebaut hatten (Scheifele 2009) - die Diphtherie war eine Erkrankung des Kindesalters.

  • In Ländern mit geringen Diphtherie-Fallzahlen und mutmaßlich höherer Durchimpfung im Kindesalter kommt es zu einer klassischen "Rechtsverschiebung" des Erkrankungsalters hin zu Erwachsenen: der Anteil der über 15-Jährigen steigt von ≤ 40% auf ≥ 66% (WHO 2017).

  • In den letzten Jahren gab es pro Jahr in Deutschland folgende Zahl von gemeldeten Diphtherie-Erkrankungen:

 

Die genaue Betrachtung dieser Zahlen in Deutschland bis 2021 zeigt Folgendes:

  • Die Zunahme der Diphtherie-Fälle zwischen 2002 und 2021 betrifft ganz überwiegend Fälle von Haut-Diphtherie (HD). Die Mehrzahl der in westlichen Ländern erworbenen Hautdiptherie-Fälle wird - anders als die importierten Fälle - von nicht-toxigenen Corynebakterien ausgelöst (LGL 2020). Selbst wenn HD durch toxigene Diphtherie-Bakterien ausgelöst wird, ist sie deutlich harmloser als die "klassische Diphtherie" (LGL 2017, CDC Pinkbook Diphtherie), denn die Toxinmenge ist in der Regel so gering, dass toxische Symptome "extrem selten" sind (LGL Bayern 2020).

  • In den meisten Fällen von HD, die in westlichen Ländern erworben wird, wird diese ohnehin von nicht-toxigenen Bakterien verursacht, diese Fälle können weder toxisch-systemische Komplikationen auslösen, noch könnten sie durch die Impfung, die ja nicht vor der Infektion, sondern nur vor der Gift-Wirkung schützt, verhindert werden.

  • in Deutschland treten mittlerweile vor allem Fälle auf, die durch Corynebakterium ulcerans ausgelöst sind (SurvStat@RKI).

  • C. ulcerans ist auch in anderen westlichen Ländern mittlerweile häufiger Erreger von Diphtherie als das "klassische Diphtherie-Bakterium" (LGL 2020) und hier stellen, anders als bei der "klassischen Diphtherie" auch Haus- und Wildtiere ein Erregerreservoir. Dies vermindert die Bedeutung der Impfung für die Epidemiologie der Diphtherie substantiell.

  • Auch die deutliche Zunahme im Jahr 2018 beruht fast ausschließlich auf dieser Zunahme von C. ulcerans-Fällen (RKI 2019).

  • Inwieweit die Diphtherie-Impfung überhaupt gegen das Toxin von C. ulcerans schützt, ist offen (RKI 2020), die Auswirkungen der "klassischen Diphtherie-Impfung" auf die Epidemiologie der C. ulcerans-Fälle (Stichwort: "Herdenimmunität") völlig unbekannt.

  • 2019 war der größte Teil der in Deutschland an Diphtherie Erkrankten geimpft (8/12, bei den Angaben zum Impfstatus vorlagen) - bei allen 8 Geimpften lag die Impfung weniger als 10 Jahre zurück, allerdings war nicht bei allen eine vollständige Impfdokumentation verfügbar. "3 Erkrankte[n] hatten jeweils ≥ 6 Impfungen erhalten: 2 durch C. ulcerans Erkrankte hatten 9 bzw. 10 Impfungen in der Vergangenheit erhalten, ein durch C. diphtheriae Erkrankter hatte 6 Impfungen erhalten. Auch wenn für einen dieser 3 Fälle der Erkrankungsbeginn nicht bekannt ist, kann anhand der übermittelten Angaben zum Alter bei Meldung (42, 60 bzw. 62 Jahre) ein vollständiger Impfschutz zum Zeitpunkt der Erkrankung angenommen und in diesen Fällen ein mögliches Impfversagen vermutet werden." (RKI 2020)

Die Situation international:

  • International registrierte die WHO im Jahr 2015 gut 4500 Diphtheriefälle mit den Schwerpunkten Indien, Indonesien und Brasilien. (WHO 2017).

  • Die letzten größeren Epidemien der jüngeren Vergangenheit betrafen in den 1990er Jahren vor allem die Staaten der damals zerfallenen UdSSR: zwischen 1990 und 1998 traten dort über 157.000 Erkrankungen auf und es kam zu mehr als 5000 Todesfällen (WHO 2017).
  • Der Rückgang der Diphtherie in Mittel- und Westeuropa und das Fehlen entsprechender Epidemien z.B. in Deutschland ist nur durch die Impfung allein nicht ohne weiteres zu erklären: mehr als 90% der Bevölkerung müssten zum sicheren Verhindern einer solchen Epidemie wirksam geimpft sein – dies ist in Deutschland allerdings nur bei Kleinkindern erreicht. Die Impfquote bei Jugendlichen und Erwachsenen liegt nach Ansicht von Fachleuten deutlich unter diesem Wert (RKI 2011), eine Studie aus dem Jahr 2013 weist nach, dass bei mehr als 40% der Erwachsenen in Deutschland die letzte Dipththerie-Impfung mehr als 10 Jahre zurück liegt (Poethko-Müller 2013), das RKI geht bei nur etwa einem Drittel der Erwachsenen von schützenden Antikörperspiegeln aus. Darüber hinaus vermittelt die Diphtherie-Impfung ohnehin keine unmittelbare und verlässliche Herdenimmunität, da Geimpfte durchaus Keim(über)träger sein können: "Da die Impfung mit dem Toxoid nur eine antitoxische Immunität hervorruft, sind Impflinge lediglich gegen die Wirkung von DT [Diphtherietoxin], also die Erkrankung weitgehend geschützt, nicht jedoch gegen eine Infektion bzw. Besiedelung mit Corynebacterium spp.. Auch Geimpfte können daher Keimträger toxigener und non-toxigener Stämme sein und als Reservoir für Diphtherie-Bakterien dienen (daher die Empfehlung zur antibiotischen Keimeradikation bei Kontaktpersonen unabhängig vom Impfstatus)." (LGL 2020).

  • Diese Tatsache und die statistisch gut erfasste deutliche Zunahme von Diphtherieerkrankungen z.B. in Kriegszeiten legen sozioökonomische Faktoren als einen wesentlichen Teil der Erklärung dieser Phänomene nahe. Eine sichere Abschätzung der Bedeutung des Impfschutzes allein ist somit zumindest in unseren Breiten schwer möglich.

  • Seit dem Sommer 2022 kommt es in zahlreichen europäischen Ländern - auch in Deutschland - zu einem ungewohnt starken Anstieg von Diphtherie-Infektionen mit C. diphtheriae.

    • Einschließlich UK und Schweiz waren dies 2022 (bis zum 10.01.2023) 331 Fälle, von denen die meisten in Deutschland (116), UK (73) und Österreich (63) auftraten (CDTR 13.01.2023)

    • 2023 traten bisher (CDTR 14.04.2023) 20 Fälle auf, 17 davon in D

  • Dieser Anstieg beruht auf Ausbrüchen in Einrichtungen für Asylsuchende.

  • Es handelt sich fast ausschließlich um Fälle von Hautdiphtherie

  • Es handelt sich überwiegend um Infektionen mit toxigenen C. diphtheriae

  • Es gibt bislang keinen Anhalt für eine Ausbreitung in die jeweilige Gesamtbevölkerung der betroffenen Länder (CDTR 14.04.2023)

  • Eine aktuelle (April 2023 - Badenschier 2023) Veröffentlichung des RKI schließt Infektionen in den Herkunftsländern genauso aus wie solche im Zielland und vermutet Infektionen auf der Fluchtroute (Balkan) als Ursache dieser ungewöhnlichen Fallhäufung.

Badenschier 2023

 

Badenschier F. 2023. Sudden increase of diphtheria with Corynebacterium diphtheriae among migrants arriving in Germany, 2022: statisticall outlier – or detection of an outbreak?. Tagungsposter. Abruf 13.04.2023

Berger A. 2019. Emerging Microbes & Infections. 8(1):211–17

BR vom 09.04.2017. Abruf 12.04.2017

CDC. Pinkbook - Diphtheria. Abruf 12.04.2017

CDTR. 13.01.2023. Communicable Disease Threats Report Week 2, 8-14 January 2023

CDTR. 14.04.2023. Communicable Disease Threats Report Week 15, 9–15 April 2023

ECDC. Annual Epidemiological Report 2016 – Diphtheria. Abruf 12.04.2017

LGL Bayern. Diphtherie. Abruf 13.04.2023

Poethko-Müller C. Bundesgesundheitsbl 2013. 56:845–857. DOI 10.1007/s00103-013-1693-6

RKI EpiBull 2011, Nr. 27

RKI. Infektionsepidemiologisches Jahrbuch meldepflichtiger Krankheiten für 2010, 2011, 2012, 2013, 2014, 2015, 2016, 2017, 2018, 2019. Berlin

Scheifele DW./WHO, Department of Immunization. 2009. Immunological basis for immunization: Module 2: Diphtheriea (update 2009). Geneva: Word Health Organization

WHO. 2006. Diphtheria vaccine - position paper. WER 2006. 81(3): 24-32. Abruf 18.07.2018

WHO. 2017. Diphtheria vaccine: WHO position paper – August 2017. WER 2017. 92: 417–436. Abruf 13.04.2023