Die Auseinandersetzung um David Sievekings Film "Eingeimpft" ist auch nach dem offiziellen Filmstart noch lange nicht zu Ende und ihr Niveau erreicht mit dem Kommentar von Kathrin Zinkant in der Süddeutschen Zeitung vom 14.09.2018 einen (wahrscheinlich nur vorläufigen) neuen Tiefpunkt.
Nicht genug, dass an just dem Tag, an dem die Chefredaktion der SZ in ihrem wöchentlichen "Brief aus der SZ-Chefredaktion" gewohnt klug darüber reflektiert, dass "Worte […] immer Bedeutungsrahmen und Interpretationshilfen mit [lieferten]" (Bönisch 2018), Zinkant schon mit ihrer Überschrift "Alternative Fakten sind der Lebenssaft des Populismus" diesen leisen, hochsubjektiven Dokumentarfilm in ein Spannungsfeld zwischen Donald Trump, AfD und italienischer 5-Sterne-Bewegung rückt. Sie selber befeuert dann moralisierende Ressentiments, indem sie den Regisseur persönlich verantwortlich macht für jedes einzelne Kind, das jetzt - wegen seines Filmes unvollständig geimpft - erkranke und Schaden nehme... ein typisch populistisches Stilmittel.
Zinkant ätzt gegen prämierte journalistische Kolleginnen, die den Experten in Sievekings Film die (in einer Demokratie selbstverständliche) Legitimität zuspricht, sich in einem solchen Film zu äußern und übersieht in ihrem heiligen Zorn, dass diese Experten unter anderem der (damalige) STIKO-Vorsitzende Jan Leidel und der Präsident des Paul-Ehrlich-Institus Klaus Cichutek waren, die ausführlich und unkommentiert zu Wort kommen. Sie ignoriert in ihrem Furor, dass der dänische Anthropologe Peter Aaby und seine Arbeiten immerhin die WHO zu umfassenden und noch andauernden Untersuchungen veranlassten - das gelang noch keinem "Impfkritiker". Und diese - anders als von Zinkant behauptet - "feiern" diesen Film keineswegs "frenetisch", sondern lehnen ihn rundweg als zu wenig impfkritisch ab (s. hier). Auch wenn in Sievekings Film weder Impfkritiker noch Impfskeptiker zu Wort kommen (Aaby z.B. empfiehlt im Film expressis verbis und mit Nachdruck die Masern-, Polio- und sogar die Pockenimpfung) muss Kathrin Zinkant jetzt sehr tapfer sein, denn: in unserer Gesellschaft darf tatsächlich - wie von ihr mit beissender Polemik kritisiert - jeder der Ahnung hat, diese in der Öffentlichkeit streuen - und das ist gut so (wie dürften sonst studierte Biochemikerinnen zu hochkomplexen medizinischen Themen publizieren....).
In Sievekings Film kommen auch Experten zu Wort, deren Stimme sonst gerne überhört wird - die französischen Forscher, die den Zusammenhang von Aluminium und autoimmunologischen Erkrankungen erforschen und in hochangesehenen, peer-reviewed Journalen veröffentlichen, auch Peter Aaby, der mit seinen Ergebnissen sowohl von der WHO, als auch z.B. vom RKI ernst genommen wird - beide Institutionen veröffentlichen Aabys Ergebnisse und sehen hier wichtige Forschungsanstöße und, wie er selber auch, umfassenden weiteren Forschungsbedarf. Sieveking vergisst bei keinem dieser Experten im Film den Hinweis, dass diese Denkansätze umstritten seien und von vielen Wissenschaftlern nicht geteilt würden - eine Differenziertheit in der Darstellung wissenschaftlicher Positionen, die man in den Wissenschaftsredaktionen vieler von Zinkant so genannter "Qualtitätsmedien" oft vergeblich sucht.
Im Rahmen der Filmpremiere in München fiel auf dem anschließenden Diskussionpodium der denkwürdige Satz, dass, wer sein Leben wissenschaftlichem Arbeiten verschreibe, sich verabschiede von der Sicherheit, irgendwann einmal ganz sicher Recht zu haben - auch diesen Sinnspruch wünscht man sich auf ein Kissen gestickt auf jedem Sitzplatz so manches Wissenschaftsredakteurs. Wie fragil Gewissheiten, wie relativ die von Zinkant bis an die Grenze des Erträglichen strapazierten "Fakten" sind, zeigt z.B. die aktuelle Diskussion über die HPV-Impfung. Die Mutter aller evidenzbasierten Medizin, die Cochrane Collaboration veröffentlichte im Frühjahr diesen Jahres ein vermeintlich abschließendes Review zu Sicherheit und Effektivität der HPV-Impfung, das von den Wissenschaftsjournalisten zahlloser Qualitätsmedien unkritisch gefeiert und paraphrasiert wurde - bis zwei Monate später Experten der gleichen Organisation ihren Kollegen Datenverfälschung und -unterschlagung akribisch nachwiesen und den Verstoß gegen die moralisch-ethischen Grundsätze eben der Cochrane Collaboration vorwarfen, der beide Autorenteams seit Jahren angehören (s. hier).
Es ist (wohl ungewollte Selbst-) Ironie, wenn Zinkant am Ende ihrer accusatio fordert "die unangenehmen Fragen müssen gestellt werden - und es muss eine ehrliche Auseinandersetzung damit stattfinden" - denn genau diesem Anspruch wird Sievekings Film gerecht; er stellt die unangenehmen Fragen und zeigt eine sehr persönliche, ehrliche und in ihrer Subjektivität teilweise fast schmerzhafte Auseinandersetzung damit - ohne, wie Zinkant selber, zu irgendeinem Zeitpunkt den Anpruch zu erheben, eine allgemeingültige oder gar die einzig richtige Antwort gefunden zu haben.
Hatte man gehofft, dass die Illusion, es gäbe eine und nur eine mögliche Sicht und Interpretation von Wissen und Welt, mit dem Erlöschen der Scheiterhaufen der Inquisition auch zu Asche geworden sei - zumindest die verklärte Sehnsucht nach diesem Weltbild scheint vor dem einen oder anderen Redaktionscomputer die Jahrhunderte überdauert zu haben...
Literatur
Bönisch J. Brief aus der SZ-Chefredaktion vom 14.09.2018. Abruf 14.09.2018
Zinkant K. Süddeutsche Zeitung vom 14.09.2018. Abruf 14.09.2018