Derzeit machen mehrere Studien medial Furore (z.B. tagesschau 27.08.2021), die behaupten nachzuweisen, dass das Risiko vieldiskutierter Komplikationen wie Herzmuskelentzündungen (Myokarditis) oder Hirnvenenthrombosen (CVST) nach einer COVID-19-Infektion wesentlich höher sei, als nach einer COVID-19-Impfung. Wie aussagekräftig und wie methodisch belastbar sind die zitierten Studien?

 

  • zum einen die Studie von Barda et al, die im New England Journal of Medicine erschien (peer-reviewed) und Daten aus Israel zur Impfstoffsicherheit des BioNTech-Impfstoffs analysierte. Die Häufigkeit einer Reihe von Erkrankungen (Myokarditis, Lungenembolie, Herzinfarkt, ...) wurde aus israelischen Gesundheitsdaten entnommen, auf der einen Seite nach COVID-19-Impfung, auf der anderen nach einer positiven PCR auf SARS-CoV-2. Und auch wenn die Autoren ausdrücklich darauf hinweisen, dass die Ergebnisse an getrennten Kohorten erhoben wurden und nicht unmittelbar verglichen werden können ("The effects of vaccination and of SARS-CoV-2 infection were estimated with different cohorts. Thus, they should be treated as separate sets of results rather than directly compared."), ist es natürlich genau das, was in der medialen Rezeption der Studie geschieht. Nach diesen Daten war das Risiko z.B. für eine Myokarditis nach der Impfung um das 3,24-fache erhöht (95% Vertrauensbereich KI 1,55 - 12,44), nach der Infektion um das 18,25-fache (95% KI 3,95 - 25,12).

  • zum anderen ist es die Studie von Hippisley-Cox, die ebenfalls peer-reviewed im British Medical Journal erschien und Thrombozytopenie und Thromboembolien nach Impfung und Infektion verglich. Hier liegen Daten des englischen Amtes für Statistik ONS und des National Health Service zu Grunde. Und auch hier fanden sich auf den ersten Blick teilweise deutlich höhere Risiken der untersuchten Erkrankungen nach einer COVID-19-Infektion als nach BioNTech- oder AZ-Impfung.

 

es handelt sich um retrospektive Kohortenstudien - dieses Studiendesign ist methodisch eines der schwächsten, da bei aller Mühe, vergleichbare Studienkohorten zu schaffen, nie ausgeschlossen werden kann, dass die beobachteten Effekte auf Faktoren zurückzuführen sind, die bei der Kohortenbildung nicht berücksichtigt wurden (so genannte confounder).

Die Impfkomplikationen wurden passiv erfasst, d.h. erfasst wurde, was spontan gemeldet wurde, Geimpfte wurden nicht aktiv bezüglich der untersuchten Nebenwirkungen nachverfolgt. Ein solches System der so genannten passiven Surveillance (wie es z.B. auch in Deutschland verwendet wird) unterschätzt in der Regel die Häufigkeit von Nebenwirkungen erheblich, das PEI geht von einer Untererfassung der Impfstoffnebenwirkungen um den Faktor 5 - 10 aus. Damit ist der Zähler des zu bildenden Bruchs "UAW pro Geimpfte" letztendlich unbekannt und kann erheblich über den erfassten Werten liegen, die hier "errechneten" Häufigkeiten sind mithin als Mindestwerte zu verstehen.

Auf der Seite der Impfkomplikationen ist der Nenner des Bruchs jedoch definiert - denn die Zahl der verabreichten Impfstoffdosen ist systematisch erfasst und bekannt - es gibt keine "unerkannt Geimpften".

Auf der Seite der Infektionen ist die Situation jedoch eine völlig andere: die zu Grunde liegenden PCRs wurden nicht systematisch durchgeführt, sondern erfasst, wenn sie aus welchen Gründen auch immer veranlasst wurden. Hier ist davon auszugehen, dass einer der Hauptgründe für die SARS-CoV-2-Testung in bestehenden Krankheitsbeschwerden lag. Damit wäre die Aussage dieses Studienarms aber nicht: "Komplikationen pro SARS-CoV-2-Infektion", sondern "Komplikation pro symptomatischer COVID-19-Erkrankung". Dies ist gerade bei SARS-CoV-2/COVID-19 ein entscheidender Unterschied, da nach jetzigem Kenntnisstand bei weitem nicht alle PCR-Positiven symptomatisch erkranken*. Damit gibt es hier sehr wohl eine erhebliche Zahl "unerkannter Besiedelter" (die keine PCR-Testung veranlassten, weil sie keine Krankheitssymptome aufwiesen). Daher ist aber die von der Studie behauptete Aussage eine Komplikationsrisikos im Falle einer SARS-CoV-2-Infektion wissenschaftlich unhaltbar, weil wir den Nenner des Bruchs "Komplikation pro SARS-CoV-2-Infektion" schlicht nicht kennen.

In der medialen Rezeption dieser Studien wird dieses Risiko darüber hinaus auch als polare Alternative pointiert: auf der einen Seite das Risiko durch die Impfung für die Geimpfte, alternativ auf der anderen Seite das Risiko der Infektion für die Ungeimpften. Hierbei wird außer Acht gelassen, dass wir auch unverändert keinerlei verlässlichen Daten dazu kennen, wie hoch die Inzidenz einer SARS-CoV-2-Infektion bzw. einer COVID-19-Erkrankung tatsächlich ist, also wie hoch das Risiko einer/eines Ungeimpften z.B. in Deutschland ist, sich z.B. innerhalb eines Jahres mit SARS-CoV-2 anzustecken**.

Nicht zuletzt handelt es sich bei einigen der meistdiskutierten Impfstoff-Nebenwirkungen um Phänomene, die in bestimmten Subgruppen der Geimpften mit einer wesentlich höheren Häufigkeit auftreten, als bei der Gesamtheit aller Geimpften. So sind von der Herzmuskelentzündung nach mRNA-Impfstoffen ganz überwiegend Jugendliche und junge Erwachsene betroffen und in dieser Gruppe noch einmal junge Männer wesentlich häufiger als junge Frauen - ein Umstand, den die Studie von Barda im NEJM völlig ignoriert. Auch die Häufigkeit der Sinusvenenthrombose ist ganz überwiegend bei Frauen unter 55 Jahren beobachtet worden - die englische Studie nimmt hier zwar eine Subgruppen-Analyse bei Unter-50-Jährigen vor, differenziert diese aber nicht nach dem Geschlecht. Dennoch ist das gefundene Ergebnis in mehrfacher Hinsicht irritierend: es findet sich die bekannte Risikoerhöhung für den AZ-Impfstoff (Inzidenzverhältnis 6.36, 95% KI 2.61 - 15.46), aber auch eine nicht ganz so ausgeprägte Zunahme des Risikos für den BioNTech-Impfstoff (3.90, 95% KI 0.96 - 15.82). In der altersunabhängigen Gesamtanalyse fanden sich nach beiden Impfstoffen deutliche Risikoerhöhungen mit plausiblen Vertrauensbereichen (AZ 4.01, 95% KI 2.08 - 7.71; BioNTech 3.58, 1.39 - 9.27), das vermeintlich viel höhere CVST-Risiko nach der Infektion wird durch den abstrus großen Vertrauensbereich jedoch wissenschaftlich entwertet (Inzidenzverhältnis 12.90, 95% KI 1.86 - 89.64). Beiden Studien ist hier vorzuwerfen, dass sie mit der primären (CVST) oder ausschließlichen (Myokarditis) Angabe des Gesamtrisiko für alle Geimpften z.B. im Abstract diese Risiken "kleinrechnen".

 


* Hier ist einmal mehr von Bedeutung, dass die PCR keine Infektion nachweisen kann, sondern lediglich eine Besiedlung mit SARS-CoV-2. Ohne Kenntnis der klinischen Symptomatik und/oder zumindest eine ct-Wertes und/oder eines Antikörper-Titer-Verlaufs ist keine Aussage zu Infektion und/oder Erkrankung möglich.

** Es sei hier noch einmal betont, dass die Zahlen, die das RKI als "Inzidenz" veröffentlicht, diese Aussage eben nicht ermöglichen, da sie immer von der Anzahl und der jeweiligen Teststrategie der durchgeführten PCR-Tests (die nicht standardisiert oder repräsentativ erhoben werden) abhängt - diese "Wielzidenz" ist wissenschaftlich wertlos.

Beide Studien erheben ausgesprochen oder unausgesprochen den Anspruch eines Risikovergleichs zwischen der COVID-19-Impfung und einer COVID-19-Infektion.

Solange bei der Betrachtung der Geimpften keine aktive Erfassung von Impfkomplikationen erfolgt, ist jede quantitative Aussage zu ihrer Häufigkeit wissenschaftlich nicht sinnvoll, jedes errechnete Risiko ist immer nur als "Mindest-Risiko" zu verstehen, das jedoch - und hier liegt ein entscheidender Unterschied zum Risiko bei einer Infektion - für jeden Geimpften gilt.

Solange bei der Betrachtung der Ungeimpften keine systematische PCR-Testung an einer repräsentativen Kohorte nach klar definierten Kriterien (idealerweise anlassunabhängig) erfolgt, sind Aussagen zur Häufigkeit von Komplikationen bei Besiedlung oder Infektion wissenschaftlich ebenfalls nicht sinnvoll. Das im Subtext der Studie transportierte "Risiko Ungeimpfter" bedürfte darüber hinaus belastbarer Daten zum absoluten Risiko für Besiedlung, Infektion oder Erkrankung in der untersuchten Bevölkerung - diese Daten liegen unverändert nicht vor.