Selbst die altehrwürdige FAZ schreckt beim Thema Impfpflicht nicht vor alternativen Fakten zurück und interpretiert die Äußerungen des Ethikrates zur Impfpflicht-Debatte... sehr eigenwillig.
Der Hintergrund: auf Bitten der Bundesregierung beschäftigt sich der Deutsche Ethikrat, ein multidisziplinär besetztes Gremium von Fachleuten, das die Bundesregierung in wichtigen Fragen berät, derzeit mit dem Thema Impfpflicht und veröffentlichte gestern eine vorläufige diesbezügliche Pressemitteilung (Ethikrat 2019).
In dieser heißt es wörtlich:
"Derzeit wird – nach Ansicht des Deutschen Ethikrates zu Recht – intensiv über Maßnahmen zur Erhöhung der Impfquote für Masern diskutiert. Dabei dominieren allerdings Forderungen nach Einführung einer gesetzlichen Impfpflicht für Kinder. Diese Verkürzung der Debatte hält der Deutsche Ethikrat […] für verfehlt" und er führt als problematische Punkte namentlich auf:
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"Unzulässige Verengung des Adressatenkreises auf Kinder" - weil eben gerade die Impflücken bei Erwachsenen epidemiologisch besonders problematisch seien
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"Unzureichende Berücksichtigung der Datenlage" - weil nämlich die Durchimpfungsraten für die (entscheidende) erste Masernimpfung bei Kindern in Deutschland sehr gut seien
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"Unschärfe des Begriffs der Impfpflicht" - weil sich noch keiner öffentlich sinnvolle Gedanken über mögliche Sanktionen einer solchen Pflicht gemacht hat
Der Ethikrat fasst wörtlich zusammen: "Entgegen der bisherigen Engführung auf die Frage nach einer gesetzlichen Impfpflicht erfordert eine erfolgreiche Impfpolitik einen umfassenden Ansatz. Dieser muss das ganze Spektrum von Akteuren, Adressaten, Instrumenten und Regelungsebenen auch in ihren Wechselbeziehungen in den Blick nehmen. Erst auf dieser Grundlage kann geprüft werden, wie das Ziel eines hinreichenden Impfschutzes mit Maßnahmen von möglichst geringer Eingriffstiefe erreicht werden kann. Diese Prüfung ist geboten, bevor das geltende Recht geändert wird." (Hervorhebung von mir).
In einfacher Sprache: die derzeitige Debatte über die Impfpflicht beschränkt sich zum einen unzulässig auf eine gesetzliche Impfpflicht (statt "umfassend" nach möglichen Instrumenten zur Verbesserung der Impfquoten zu suchen) und zum zweiten unzutreffend auf Kinder (die gar nicht das Problem sind).
Und nun kommt die FAZ in Gestalt von Herrn KB Becker und führt ein Interview mit Peter Dabrock, dem Vorsitzenden des Ethikrates, in dem dieser die Positionen "seines" Gremiums noch einmal sehr differenziert erläutert (Becker 2019a): "Es wird im Moment nur um die Einführung einer Masern-Impfpflicht in Kindertagesstätten gestritten, dabei müsste man viel mehr auf die Erwachsenen schauen. Sie machen die Hälfte der Erkrankten aus." und die grundsätzlichen, oft ignorierten Probleme in der Umsetzung schon einer Impfpflicht nur für Kinder ausdrücklich thematisiert: "Die wenigsten Menschen, die eine Impfpflicht wollen, legen sich Rechenschaft darüber ab, was das wirklich bedeutet. Wenn man den Begriff der Pflicht rechtlich eng auslegt, müsste man auch überlegen, wie diese durchgesetzt wird. Soll der Staat Bußgelder verhängen und die Jugendämter anweisen, Eltern vorzuladen, die ihre Kinder nicht impfen lassen? Sollen Kinder gar vom Staat in Obhut genommen werden deswegen? Und wie ist das bei Erwachsenen, die eine Impfung ablehnen, soll man sie gegen ihren Willen zwangsimpfen? Das alles steht im Raum, wenn man leichtfertig eine Pflicht fordert, aber darüber scheint sich kaum jemand im Klaren zu sein. Wenn wir den Begriff der Impfpflicht weiter so undifferenziert verwenden wie bisher, kommen wir da in erhebliche Turbulenzen."
Dabrock stellt klar: "Einer unserer rechtlichen Grundsätze ist, dass immer erst zu möglichst milden Mitteln gegriffen werden soll, bevor Zwang angewandt wird. Das halte ich auch beim Impfen für richtig, und ich glaube, das gelingt am besten über niedrigschwellige Angebote."
Nach der Lektüre der für die aktuelle Diskussion ungewöhnlich unaufgeregten Pressemitteilung des Ethikrates und des Interviews mit seinem sehr differenziert zu Klugheit und Zurückhaltung mahnenden Vorsitzenden reibt man sich dann etwas überrascht die Augen, wenn Herr Becker seinen Artikel titelt mit "Ethikrat fordert Debatte um Impfpflicht für Erwachsene" (Becker 2019b). Mit. keinem. Wort. Period
Literatur
Ethikrat. 2019. Ethikrat fordert differenziertere Debatte zur Impfpflicht. PM vom 24.04.2019. Abruf 26.04.2019
Becker KB. 2019. „Die überhitzte Impf-Debatte ist ein Risiko“. FAZ vom 24.04.2019. Abruf 26.04.2019
Becker KB. 2019b. Ethikrat fordert Debatte um Impfpflicht für Erwachsene. FAZ vom 24.04.2019. Abruf 26.04.2019