Die Ausrottung ("Eradikation") von Krankheiten durch Impfprogramme ist eines der umstrittensten Themen im Bereich der Schutzimpfungen.

Von offizieller Seite wird hier üblicherweise das Beispiel der erfolgreichen Eradikation der Pocken durch die Pockenimpfung in's Feld geführt, Kritiker weisen in diesem Zusammenhang genauso regelmäßig auf den hohen juristischen und medizinischen Preis der Impfkampagne hin.

  • Millionen von Menschen wurde in ihrem Recht auf körperliche Unversehrtheit durch die Zwangsimpfung eingeschränkt.

  • Die Pockenimpfung war extrem schlecht verträglich

    • Auf eine Million Geimpfte kamen 1 - 2 Todesfälle durch die Impfung (WHO 2009)

    • Bei einem von 20.000 Geimpften kam es zu lebensbedrohlichen Komplikationen wie z.B. Hirnentzündungen, die häufig bleibende Schäden hinterließen (WHO 2009, Belongia 2003).

    • Bei einem von 1000 (!) Geimpften traten "ernste" Nebenwirkungen der Impfung auf (WHO 2009).

Pockenviren existieren nach derzeitigem Kenntnisstand ("nur") noch in zwei virologischen Hochsicherheitslabors (USA/Russland) und den Bio-Waffen-Arsenalen einzelner Staaten (Shah 2014, Preston 2003, Henderson 1999).

Die Pocken-Eradikation dient unverändert als Blaupause für Impfstrategien gegen andere Erkrankungen wie die Hepatitis B (WHO 2016a), die Poliomyelitis (GPEI 2017) oder vor allem die Masern (RKI 2004). Da diese Zielsetzung nur mit einer jeweils hohen Durchimpfungsrate (über die so genannte "Herden-Immunität") erreichbar ist, begründet sie die regelmäßige Forderung nach einer (moralischen oder sogar juristischen) Impfpflicht: jeder Nicht-Geimpfte gefährdet dieser Lesart nach das übergeordnete Ziel der Krankheits-Ausrottung.

Die Erfahrungen mit den Impfprogrammen der letzten Jahre zeigen jedoch, dass die "weltweit erfolgreichste Errungenschaft der Medizin" (gemeint ist die Ausrottung der Pocken - Fenner 1988) nicht ohne weiteres auf andere Impfstrategien übertragbar ist, weil sie auf einigen Besonderheiten von Pocken und Pockenimpfung, einer "Verkettung mehrerer günstiger Umstände" (Gelderblom 1996), beruhte:

  • das Pockenvirus tritt nur bei Menschen auf - anders als bei z.B. Tollwut oder FSME gibt es keine tierischen (Zwischen-)Wirte

  • die Erkrankung hinterlässt eine lebenslange Immunität - anders als z.B. beim Keuchhusten

  • es gibt keine latenten/unbemerkten Verläufe - anders als z.B. bei der Kinderlähmung oder den Masern

  • es gibt keine Menschen, die den Erreger im Rahmen chronischer Verläufe langfristig ausscheiden und damit weiterverbreiten - anders als z.B. bei der Hepatitis B

  • die Impfung ist hochwirksam - anders als z.B. die gegen Keuchhusten oder Mumps

 

Auf diese Einzigartigkeit des Pocken-Szenarios wiesen selbst die Protagonisten der Eradikation schon früh hin (Fenner 1988)

  • "Despite the fact that there has been only one success in eradicating a disease, many experts speculate that a wide variety of diseases and conditions should be susceptible to eradication given sufficient resources, effort, and cooperation. However, this is precisely the wrong lesson to be learned from the smallpox campaign. There were many factors that uniquely favored smallpox eradication (Henderson 2002)

  • "Smallpox eradication was a rare event. That concept is unrealistic in today's world."  (Arita 2004).

Darüber hinaus wird die Euphorie des "worlds most triumphant achievement in medicine and public health" (Fenner 1988) durch aktuelle Beobachtungen vor allem aus Afrika mehr als gedämpft: die nächsten Verwandten der Pockenviren, die Affen- und Kuhpocken, breiten sich dort, 35 Jahre nach dem Ende der dortigen Pockenimpfkampagnen, massiv aus (Ärzteblatt 2017, Shah 2014). Nach Ansicht der Forscher werden diese Ausbrüche begünstigt durch die mittlerweile fehlende Immunität gegen Menschenpocken (Rimoin 2010) - Epidemiologen nennen dies eine "virgin soil epidemic" (Crosby 1976). Die Fälle von Affenpocken beim Menschen nähmen "dramatisch" (Doshi 2019, Rimoin 2010) zu und vor allem bei den Affenpocken kam es bereits zu Übertragungen von Mensch zu Mensch und auch zu Todesfällen durch die Erkrankung (Learned 2005). Im Herbst 2017 findet ein Ausbruch von Affenpocken mit deutlich mehr als 100 Fällen, der den Experten zu Folge "unusual in its magnitude and geographical extension"  ist (CDTR 2017) - die WHO spricht mittlerweile gar von einem globalen gesundheitlichen Problem: "The emergence of cases is a concern for global health security." (Alleman 2018).

Das Phänomen ist keineswegs auf Afrika beschränkt: in den USA wurden bereits 2004 (Ansteckung z.B. über Präriehunde - Reed 2004), in Großbritannien seit 2018 drei menschliche Erkrankungsfälle durch Affenpocken nachgewiesen (PHE 2019, RKI 2018a und 2018b). Forscher befürchten hier die genetische Veränderung dieser Viren, die zu einer dann leichteren Übertragung von Mensch zu Mensch  und damit zum Wiederauftreten von (Affen-) Pockenepidmien führen könnte (Shah 2014). Eine Eradikation dieser Erkrankungen wäre - aufgrund des Erregerreservoirs bei den verschiedensten Tierarten (darunter z.B. Hauskatzen für die Kuhpockenviren) - nicht realistisch.

Ein weiteres gravierendes Problem ist in den letzten Jahren deutlich geworden: die Möglichkeit, mit verhältnismäßig überschaubarem Aufwand Pockenviren im Labor herzustellen. Für die verwandten Pferdepocken ist dies bereits gelungen (Kupferschmidt 2017), das Vorgehen mittlerweile en détail veröffentlicht (Noyce 2018), die Übertragung der verwendeten Technik auf Menschenpocken ist prinzipiell möglich (Zylka-Menhorn 2018) und die Herstellung dieser Viren  "did not require exceptional biochemical knowledge or skills, significant funds or significant time", wie die WHO auf einem Expertentreffen 2016 festellte (WHO 2016b); der geschätzte finanzielle Aufwand für ein solches Projekt wird mit $ 100.000 angegeben... . Hier drohen also ganz neue Szenarien der biologischen Kriegsführung oder des Bio-Terrorismus - all dies vor dem Hintergrund eines weltweiten "virgin soil"...

 

Literatur

Alleman. 2018. WER 93(11):125-32.

Arita I. Jpn J Infect Dis. 2004 Feb;57(1):1-6. 26.02.2017

Belongia EA. Clin Med Res. 2003 Apr; 1(2): 87–92. 26.02.2017

CDTR. Week 45/2017. Abruf 15.11.2017

Crosby AW. The William and Mary Quarterly Vol. 33, No. 2 (Apr., 1976), pp. 289-299. 26.02.2017

Deutsches Ärzteblatt. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/81746/Affenpocken-in-Nigeria-ausgebrochen. Abruf 06.10.2017

Doshi RH. 2019. Emerging Infectious Diseases. 25(2):281–89

Fenner F. Smallpox and its eradication. 1998. 26.02.2017

Gelderblom H. Spektrum der Wissenschaft 6 / 1996, Seite 36. 26.02.2017

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Henderson DA. JAMA. 1999;281:2127–2137.

Kupferschmidt K. Sciencemag.org vom 06.07.2017. DOI: 10.1126/science.aan7069. Abruf 07.07.2017

Learned LA. Am J Trop Med Hyg August 2005 vol. 73 no. 2 428-434. 26.02.2017

Noyce, RS. PLoS ONE 13(1): e0188453. https://doi. org/10.1371/journal.pone.0188453

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Preston R. The Demon in the Freezer House. New York: Random; 2002. p. 233.

Reed KD. N Engl J Med 2004; 350:342-350. 26.02.2017

Rimoin A. PNAS. vol. 107 no. 37, 16262-67. 26.02.2017

RKI. 2018a. Informationen des RKI zu Affenpocken. Abruf 14.09.2018

RKI. 2018b. EpiBull 37/2018. 13.09.2018

RKI. EpiBull 10/2004. 26.02.2017

Shah S. Spektrum der Wissenschaft Februar 2014. 26.02.2017

WHO 2016a. Viral Hepatitis 2016 - 2021. 26.02.2017

WHO 2016b. WHO Advisory Committee on Variola Virus Research. 2016.

WHO 2009. http://www.who.int/vaccine_safety/committee/topics/smallpox/questions/en/. 26.02.2017

Zylka-Menhorn, V. Dtsch Arztebl 2017; 114(50): A-2406 / B-2000 / C-1954. Abruf 25.01.2018